Buchnotiz: Midnight Library von Matt Haig

Nachdem ich in den letzten Jahren viele Non-Fiction-Fachbücher gelesen habe, habe ich mich seit einer Weile endlich wieder Romanen geöffnet. Ich glaube, ich war einfach „voller Rezepte“ und Wissen, das ich momentan gar nicht umsetzen kann oder mag.

In den letzten Monaten habe ich also viele Bücher gelesen. Dabei versuche ich möglichst australische Autoren zu lesen, um die hiesige Kultur besser zu verstehen. Besonders gefallen haben mir „Bruny“ von Heather Rose (ich habe auch „Museum of Modern Love“ gelesen, ebenfalls brillant) und eine spannende Buchserie von Chris Hammer. Ich bin eigentlich nicht so sehr ein Freund von Thrillern, aber die Handlungen spielen alle im australischen Outback und sind wunderbar geschrieben.

Heute möchte ich ein Buch vorstellen, das zwar nicht von einem australischen Autor stammt, das ich aber auch in englischer Sprache gelesen habe: The Midnight Library von Matt Haig.

Das Buch handelt von einer Frau (Nora), die etwa 30 Jahre alt ist. Sie lebt im englischen Bedford. Wir treffen sie an einem Wendepunkt in ihrem Leben: Sie verliert ihren Job in einem Musikgeschäft, sie hat nur wenige Tage vor ihrer Hochzeit kalte Füße bekommen und ist abgesprungen. Sie spielte mit ihrem Bruder und Freunden in einer Band und gerade als sie einen Plattenvertrag bekamen, verließ sie die Band. Nora studierte in London, aber sie ist wieder zurück nach Bedford gekommen. Hier ist sie nie glücklich geworden. Sie hat das Gefühl, dass nichts passt und als sie den Job verliert, ihre Katze überfahren wird und ihr Bruder in die Stadt kommt, ohne sie sehen zu wollen, entscheidet sie sich zu sterben.

Im Buch wird das alles wunderbar dramatisch aufgebaut. Dann gibt es einen Schnitt: Es ist Mitternacht. Und Nora ist tot. Oder nicht? Sie befindet sich in einer alten Bibliothek, der Mitternachtsbibliothek. Sie ist voll gestopft mit Büchern. Ist das alles ein Traum? Sie versteht es nicht. Dann trifft sie eine Bibliothekarin, die ihr erklärt, dass sie an einem ganz besonderen Ort ist. Es ist ein Ort zwischen Tod und Leben.

Die Bibliothek ist jedoch mehr als ein Warteraum, um vom Tod abgeholt zu werden. Denn in der Bibliothek geht es nur um Noras Leben. In den vielen Büchern stehen Geschichten aus Noras Leben, die sich aus anderen Entscheidungen ergeben hätten. Am Anfang bekommt sie von der Bibliothekarin das „Buch des schlechten Gewissens“ ausgehändigt, in dem alles notiert ist, was Nora bedauert nicht getan zu haben. Wie wäre ihr Leben verlaufen, wenn sie den Mann doch geheiratet hätte und mit ihm einen Pub auf dem Land eröffnet hätte? Diese Frage hatte sie sich auch schon lebendig gestellt. Die Bibliothekarin erklärt ihr, dass sie dieses Leben leben könnte und gibt ihr das Buch mit dieser Geschichte.

Die Spielregel ist, dass man sofort zur Bibliothek zurückkehrt, wenn das Leben dann doch nicht wie erwartet läuft und enttäuscht. Und dann geht die wilde Fahrt los: Nora sieht sich in einem Leben, dass sie nie gelebt hat: Sie ist in einem Pub, sieht sich und ihren Mann und lernt, dass sich beide auseinander gelebt haben. Er trinkt viel Alkohol und hat eine Beziehung mit einer anderen Frau. Nora ist auch in diesem Leben nicht glücklich. Sie kehrt zurück zur Bibliothek und liest ein anderes Buch.

In diesem Leben ist sie mit ihrer besten Freundin nach Australien gezogen. Sie steht an einem Pool, weiß nicht genau, wo sie ist und wer sie ist. Doch sie merkt, dass sie in diesem Leben sehr viele Drogen nimmt und dass ihre Freundin bei einem Autounfall umgekommen ist. Sie verkraftet dieses Leben nicht, versinkt in Depressionen. Das bringt sie zurück zur Bibliothek.

In einem anderen Leben wacht sie als Karrierefrau in einem teuren Hotel auf. Doch auch mit diesem Leben stimmt etwas nicht. Danach durchlebt Nora noch weitere Leben: Unter anderem lebt sie als Forscherin in der Antarktis und wird fast von einem Bären gefressen. Sie hat die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen im Schwimmen geholt. Sie hat die Band nicht verlassen und ist nun ein Rockstar. Manchmal geht es ihr hervorragend und in anderen Leben ist sie depressiv. Doch sie kommt immer wieder zurück zur Bibliothek und fragt sich, ob sie immer dort bleiben muss, endgültig stirbt oder vielleicht eins dieser Leben einfach weiterleben darf. Was zunächst faszinierend für Nora ist, gerät zunehmend zur Qual für sie.

In der Mitte des Buches wünscht man sich, dass Nora trotz der unterschiedlichen Leben am Ende vielleicht doch wieder in ihr echtes Leben zurückkehrt. Vielleicht verschont sie der Tod, weil sie versteht, dass ihr Leben durchaus lebenswert ist. Aber letztlich nimmt das Buch doch noch eine überraschende Wendung, die ich hier natürlich nicht verrate. Insgesamt ist The Midnight Library ein tolles Buch, das sich schnell liest, aber gleichzeitig tiefgründig ist, wenn man es zulässt. Unbedingte Leseempfehlung.