Wie ein unaufgeräumter Kühlschrank im Kopf

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Zeig mir dein Haus, deine Wohnung, deine Garage und das Innere deines Kühlschranks. Ein Blick genügt, um herauszufinden, ob du auch im Kopf sortiert bist. Ist äußerlich ein Riesenchaos um dich herum? Dann wird es in deinem Kopf vermutlich auch nicht sortierter und klarer sein. Ist bei dir alles aufgeräumt, liegt alles an seinem Platz? Dann sind die Chancen größer, dass auch in deinem Kopf Ordnung herrscht. Aber das muss nicht unbedingt der Fall sein.

Ich kenne viele Leute, die hervorragend im Aufräumen, Putzen, Saubermachen, Sortieren und Organisieren sind. Doch in ihrem Kopf herrscht ein noch größeres Chaos. Sie versuchen, das innere Chaos mit äußerer Ordnung zu kompensieren. So nach dem Motto: “Wenn ich schon meine vielen Gedanken, Sorgen und Ängste in meinem Kopf nicht sortieren kann, dann versuche ich wenigstens, alles andere außerhalb meines Kopfes akkurat zu halten, sodass es zumindest den Anschein hat, dass ich auch innerlich geordnet bin.” Natürlich gibt es Menschen, die innen und außen aufgeräumt sind. Man muss sie nur erst einmal finden.

Ich bin immer sehr fasziniert von Menschen, die äußerlich wie aus dem Ei gepellt sind: perfekte Kleidung, makelloses Gesicht, wunderbar gekämmte Haare - alles passt. Wer, so wie ich, lockige Haare hat, kann allein hier schon nicht mithalten. Obwohl ich gehört habe, dass diejenigen mit glatt gekämmten und akkurat zurechtgelegten Haarschnitten lieber wilde Locken haben würden. Aber das führt jetzt weg von dem, was ich eigentlich sagen möchte.

Ich glaube, dass ganz stereotypisch gesehen die Menschen, bei denen alles herumliegt und das Chaos Überhand genommen hat, auch im Kopf nicht besonders viel Ordnung halten. Das heißt nicht, dass sie es nicht können. Es ist ihnen einfach nicht wichtig. Wenn aber die Eltern oder noch nicht so enge Freund:innen und Bekannte zu Besuch kommen, dann wird in Turbo-Geschwindigkeit aufgeräumt. Dann ist wieder alles für eine kurze Zeit sauber und aufgeräumt und nach einer Weile hat die Natur wieder übernommen. So wie bei meinem Bart: Ab und zu rasiere ich ihn einfach weg und lasse ihn wachsen, bis es für mich zu kratzig, juckig oder einfach nicht mehr schön ist. Dann wird er wieder abrasiert und ich überlasse es den natürlichen Trieben.

Können wir dieses Phänomen auch auf unser Denken übertragen und kann die künstliche Intelligenz vielleicht helfen, aus verwirrten Köpfen sortierte Superdenker:innen zu machen? Denn die KI braucht nicht viel Ordnung, sie findet sich auch in unordentlichen Räumen zurecht. Zwar kann die künstliche Intelligenz sich noch nicht in deiner Küche bewegen und alles saubermachen und aufräumen. Aber wenn es um Wissen geht, um das Sortieren von Inhalten und auch das Einschätzen von Informationen, da kann uns die künstliche Intelligenz jetzt schon helfen.

Du könntest zum Beispiel alle Informationen und Inhalte aus dem Web oder von YouTube oder den sozialen Medien einfach in ein System wie zum Beispiel Obsidian laden und dann die KI darauf ansetzen, um aus diesen Inhalten etwas Neues zu generieren. Oder du lässt die KI einen Artikel zum Thema XYZ schreiben und verlangst im Prompt, dass die KI aus den verschiedenen Notizen und Clippings, die du gesammelt hast, die relevantesten auswählen soll, um eine Outline oder gleich einen Artikel vorzuschlagen. Das klingt doch toll, oder?

Das Problem dabei ist, dass wir uns überhaupt nicht mehr tief mit den Inhalten beschäftigen, sondern alles der künstlichen Intelligenz überlassen. In diesem Fall haben wir zumindest schon mal die Quellen selbst zusammengetragen und lassen dann die KI darüber laufen. Das heißt aber auch, dass du niemals mehr aufräumen wirst, weil die künstliche Intelligenz das alles für dich erledigt. Also Vorsicht, hier gibt es etwas zu Verlernen (falls es überhaupt schon mal da war).

Stell dir vor: Du würdest am Ende des Tages alles, was du so in der Küche oder im Wohnzimmer oder im Schlafzimmer gemacht hast, niemals mehr wegräumen. Und nicht nur das - auch am nächsten Tag nicht. Und am übernächsten Tag auch nicht, bis es im Schrank keine frischen Töpfe und keine frischen Teller, Gläser und Besteck gibt. Alles liegt jetzt herum und wartet darauf, dass am Freitag jemand kommt, um alles für dich wieder aufzuräumen. Du sitzt einfach nur faul auf dem Sofa, schaust Fernsehen, surfst im Web und lässt dir die Waren liefern, weil du so faul und lethargisch geworden bist, dass du dich gar nicht mehr bewegen kannst. Genau das passiert auch mit deinem Gehirn, wenn wir jetzt alles der KI überlassen.

Wie kommen wir nun aber aus dieser Situation heraus? Ich glaube, die KI ist ein hervorragender Mitarbeiter und Unterstützer. Wir dürfen die künstliche Intelligenz nicht unterschätzen. Im Gegenteil - wir sollten sie richtig fordern. Gleichzeitig sollten wir uns immer wieder das eigene Denken erobern. Auch wenn wir nicht so schnell und auch nicht so stark im Denken sind, wir sollten das Menschsein mit unseren Unzulänglichkeiten feiern, das Menschsein nicht vergessen.

Jetzt umso mehr: Wir sollten uns weiter kreative Gedanken zu Dingen machen, die uns interessieren und auf die die Maschine nie gekommen wäre - weil unsere Gedanken immer eng verknüpft sind mit unseren Erfahrungen und unserer Sozialisation. Denn das macht uns als Menschen aus: Die Erfahrung und alles, was uns in unserem Leben bisher passiert ist und wie das in uns hängen geblieben ist. Im Vergleich zur KI ist das ein klitzekleiner Wissenskegel, der aber erst wertvoll wird, wenn wir ihn auf unsere Erfahrungskegelbahn stellen.

Was bedeutet das nun in meiner Praxis? Ich will das Selbstdenken nicht aufgeben. Im Gegenteil: Ich will es trotzig erweitern, verbessern, vertiefen. Weniger ist nicht nur besser, weniger ist genug. Wie gehe ich damit um: Ich versuche seit einer Weile weniger digitalen Quatsch aufzunehmen und lieber länger und tiefer an Themen zu arbeiten, um sie richtig verstehen zu können und aus diesem Wissen etwas zu schöpfen, etwas damit anzufangen.

Aber warum die Anstrengung? Ich könnte doch die künstliche Intelligenzmaschine über meine unausgegorenen Gedanken und Notizen laufen lassen und „prompten“: „Fasse mir das mal zusammen und erkläre es wie du es einem Fünfjährigen erklären würdest." Aber genau das möchte ich nicht. Ich versuche, Themen nicht nur mit dem Kopf zu verstehen, sondern sie mit dem Herzen zu begreifen. Und das dauert oft viel länger, als man denkt. Bei manchen Themen reicht wahrscheinlich ein ganzes Leben nicht aus.

Das Interessante dabei ist, dass jeder auf seinem eigenen Thema sitzt. Vielleicht grübelst du schon seit Jahren an einem Thema, das ich in fünf Sekunden gelöst hätte. „Weiß gar nicht, was du hast - es ist doch total klar." Umgekehrt mögen meine Themen aus deiner Sicht profan und nicht uninteressant sein. Doch meistens kommt es ja gar nicht dazu, weil in unserem Kopf eben dieser unaufgeräumte Kühlschrank steckt, den wir immer mehr vollstopfen und uns auch nicht mehr wagen bis nach ganz hinten vorzudringen, um die vielen Sachen zu entfernen, aus denen schon Arme und Beine wachsen.

Die KI kann für uns Antworten auf alle Fragen geben. Doch wir müssen etwas daraus machen. Wir sollten uns also an die für uns wichtigen Themen halten und kontinuierlich daran arbeiten. Dabei gilt die alte Regel: Wir überschätzen, was wir an einem Tag oder in einer Woche schaffen - aber wir unterschätzen, was wir in einem Jahr oder noch viel längerer Zeit erreichen können. Trotz klarer, logischer Antworten wird KI unsere Köpfe nicht waschen und säubern, sondern für noch mehr Unordnung sorgen, wenn wir sie lassen. Die große Herausforderung ist also umso mehr, sich nicht die ganze Zeit von den vielen tollen Möglichkeiten ablenken zu lassen, sondern unbeirrt auf dem richtigen Weg zu bleiben, Stück für Stück anzusehen, aufzuräumen, wegzuschmeißen und endlich Klarheit im Inneren und Äußeren zu bekommen und zu erhalten. Fange doch gleich an und räume die Küche auf. Die KI kann warten.