Im Internet wird mehr gelogen als gedruckt

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Dieser Beitrag handelt von “Urban Legends”. Damals war es ein großes Thema, dass im Internet auch hin- und wieder Unwahrheiten geschrieben werden, die auch damals schon munter weiterverteilt wurden. Es gab zwar noch keine Social Media-Netzwerke, aber trotzdem wurden die Geschichten auf anderen Websites und vor allem in Foren und im Usenet aufgegriffen. Den Netzwerk-Effekt gab es also schon weit vor Facebook und co.

Wie so oft im Leben, beginnt auch diese Geschichte mit Keksen: Anne Whitfield sitzt mit ihrer Tochter im Neiman-Marcus-Café in Dallas und knabbert genüsslich an einem Schokoladenkeks. Da jetzt gerade die Weihnachtssaison beginnt, fragt Frau Whitfield nach dem Rezept. “Nein, tut uns leid”, antwortet die hochnäsige Kellnerin. “Hmm, und wenn ich dafür bezahle? " – “Dann schon, macht Zweifünfzig”, antwortet die Kellnerin mit einem etwas zusammengekniffenen Lächeln. “Das ist okay, setzen Sie es einfach mit auf die Rechnung”, freut sich Frau Whitfield und riecht schon einen süßlichen Schokoladengeruch in ihrer Wohnung.

Dreißig Tage später bleiben die Kekse Frau Whitfield jedoch im Halse stecken: Das Neiman-Marcus-Café hatte von ihrer Visa-Karte 250 Dollar für das Rezept abgezogen. Um sich zu rächen, streut Frau Whitfield diese Geschichte samt Rezept an Freunde und Bekannte, die ihrerseits aus dem klebrigen Stoff verbale Schneebälle formen und die restliche Welt damit bewerfen sollen. Irgendwann tippt ein von einem Legenden-Geschoß getroffener Internet-Benutzer die Geschichte zusammen und leitet diese weiter an die immer vor Neugier platzenden investigationsfreudige Newsgroup-Gemeinde.

Hat bis dahin die Geschichte nicht sowieso schon eine gewisse Eigendynamik nach dem “Stille Post"Prinzip” (“Der Minister hat sich beim Besuch in der Wirtschaft die Beine verrenkt”) entwickelt, werden spätestens jetzt neue Theorien aus der Luft gegriffen. Entweder wird die nun auf dem öffentlichen Web-Podium stehende Geschichte mit faulen Argumentations-Tomaten beworfen – das heißt, die Geschichte wird heftigst angezweifelt und mit lautem Knall widerlegt – oder es wird versucht, der Geschichte einen schützenden Vorhang aus kühn zusammengeflechteten Argumenten überzuwerfen.

Im Internet ist aus der stillen Post ein Jahrmarkt mit Marktschreiern, Gauklern und Scharlatanen geworden, die ab und zu ihre Köpfe zusammenstecken und danach konspirativ “Jehova, Jehova” schreien. Meistens entsteht daraus eine neue obskure Geschichte. Kenner nennen diese verstreuten (Lügen) Geschichten “Urban Legends”, oder auch kurz ULs. Übrigens, die Frau heißt nicht “Whitfield”, das war ausnahmsweise mal von uns erlogen. Der Rest der Geschichte wird im Netz immer noch heiß diskutiert.

Urbane Legenden

Baron von Münchhausen reitet schon lange nicht mehr auf Kanonenkugeln, sondern auf IP-Netzknoten. Schließlich kann man hier viel besser und schneller die unglaublichen Geschichten streuen. Waren früher die Lügen-Geschichtenerzähler an den flackernden Augenlidern oder dem nervösen Nasenflügelzucken zu erkennen, scheinen die auf dem Bildschirm erscheinenden Buchstaben genügen, um eine Geschichte offiziell zu bestätigen.

So als würden die Geschichten von einem glaubwürdigen Tagesschausprecher vorgetragen, nicken viele User die skurrilen Anekdoten widerspruchsfrei ab und erzählen diese weiter: “Du, im Fernsehn hammse gebracht, dass… " oder “Hab letztens im Internet gelesen, dass… “. Letzteren Spruch hört man immer öfter, schließlich sitzen die Redakteure der Fernsehanstalten mit Stoppuhr am Schnittpult; da bleibt keine Zeit mehr für überziehungswillige Anekdoten-Wiederholungstäter à la Kulenkampff. Und Wim Thoelke will auch niemand mehr zuhören.

Glücklicherweise gibt es im Netz frisches Blut: In Newsgroups wie zum Beispiel alt. folklore. urban haben sich viele Freunde des gepflegten Gerüchteklopfens zusammengefunden, die nicht nur alte Legenden und Mythen aufleben lassen und mit neuem Beweismaterial befruchten oder sterilisieren, sondern natürlich auch neue Gerüchte zusammenstricken, um diese dann genussvoll zu widerlegen.

Taschenrechner im Raumschiff?

Es gibt Netzlegenden verschiedener Kaliber: Alte Legenden, die man immer gerne mal wieder erzählt; Legenden, die das Sicherheitsgefühl aus der Balance bringen wollen und Verschwörungstheorien jeglicher Art. Zu den Legenden der ersten Kategorie gehört die Geschichte über Craig Sherwood, den englischen Jungen mit unheilbarem Gehirn-Tumor, dessen letzter Wunsch es war, Postkarten aus aller Welt zu bekommen. Craig hat inzwischen den Kampf gegen den Tumor gewonnen, bekommt aber immer noch täglich mehrere Hundert Postkarten und Tausende von Mails, die ihm “Gute Besserung” wünschen. Gerüchten zu Folge, soll er nun nicht mehr nach Postkarten, sondern nach Business-Karten fragen, um diese an die Adressenhaie zu verkaufen.

Wussten Sie, dass die “Bordcomputer” der Space Shuttle 5 nichts anderes waren als umgebaute Taschenrechner, die sich die Astronauten vorher noch selbst im Geschäft kaufen mussten? Oder ist das ein hartnäckiges Gerücht? HP und die NASA halten sich dazu jedenfalls bedeckt. Im Archiv der Urban Legends-Newsgroup (www.urbanlegends.com) finden Sie dazu die Erklärung eines Augenzeugens.

Spiel ohne Grenzen

Da im Internet jeder ungefiltert seine Meinung sagen darf, bietet das Netz idealen Nährboden für jede Netzlegende – auch für Legenden, die eher bösartiger Natur sind; die nicht von feixenden Hofnarren, sondern von dunklen Gestalten mit verschwörerischem Ton erzählt werden. Erst vor kurzem kursierte im Netz das Gerücht, dass die neue AOL-Version 4.0 einen Cookie in das System einschleusen würde und damit spitzfindigen AOL-Mitarbeiter Zugriff auf die Festplatte des AOL-Benutzers ermöglichen würden. Das Gerücht wurde von einem ehemaligen AOL-Mitarbeiter anonym im Netz gestreut, konnte aber bisher noch nicht bestätigt werden. Es besteht daher kein Grund zur Panik – allerdings: Sind Sie wirklich sicher?

Während die so geschädigten Unternehmen oder Privatpersonen einen “Kampf gegen Windmühlen” – denn die Gerüchteverbreiter sind eben nicht greifbar – führen, profitieren andere Unternehmen von den auf die Angstgefühle gerichteten Legenden. Fast jeden Tag gibt es neue Virenmeldungen, am besten schalten Sie Ihren Rechner erst gar nicht mehr ein. Gerüchtehalber (!) sollen die Virenschutz-Produzenten die Gerüchte selber streuen, um neue Updates und Versionen verkaufen zu können.

Groß war die Aufregung in den Medien im Sommer 1996 als der Hare-Virus zum Nationalfeind Nummer Eins erklärt wurde. Doch hat der Virus weltweit keinen organisierten PC-Massensuizid verursacht, sondern insgesamt nur 80 PC-Benutzern ein verschnupftes System eingebracht.

Spiel mit dem Feuer

Noch einen Schritt weiter gehen die Verschwörungstheorien. Die Ermordung von John F. Kennedy ist die am liebsten diskutierte Legende im Netz. Mehr als 8.700 Einträge sammelten sich in den letzten 90 Tagen in der Newsgroup alt. conspiracy. jfk. In alt. conspiracy. princess-diana scheint bereits so gut wie festzustehen, dass Diana von einem der Geheimdienste MI5, MI6, Mossad oder von French Securite ermordet worden ist. Fragt sich jetzt nur noch warum? Der Tod von Diana konnte bereits mehr als 990 Diskussionsbeiträge aktivieren. Gehörte der Fall OJ Simpson zu den größten Medienereignisse der letzten Jahre, ranken sich im Netz verschiedene Verschwörungstheorien gegen OJ Simpson. In alt. fan. oj-simpson machen sich Fans des besten “Sportler als Schauspieler” (Paul Breitner war als “Potatoe-Joe” in einem deutschen 80er-Jahre-Western weniger erfolgreich, dafür hält sich die Gerüchteküche bei ihm auch vornehm zurück) immer noch Gedanken über dessen Beweggründe.

Spyder als Killermaschine?

War James Deans Spyder eine Killermaschine? Das engagierte Ehepaar Barbara und David P. Mikkelson aus dem kalifornischen San Fernando hat dieser Legende einen “gelben Punkt” gegeben. “Gelb” bedeutet “nicht bestätigt”. Das Mikkelson-Ehepaar hat sich auf die Jagd der Legenden im Netz gemacht, trägt auf ihrer Web-Seite (www.snope.com) verschiedene Legenden zusammen und versucht, diese zu beweisen oder zu widerlegen.

Nach dem tödlichen Unfall von James Dean wurde sein Auto von einem Designer gekauft, der die noch brauchbaren Zubehöre verkaufen wollte. Als das Auto angeliefert wurde, rollte der Wagen von dem Truck herunter und fuhr über die Beine des Mechanikers. Später wurde der Motor in einen anderen Wagen eingesetzt, die Probefahrt endete für den Fahrer ebenfalls tödlich.

Mit einem grünen Punkt kennzeichneten die lebenden Lügendetektoren Mikkelson die Geschichte von Jack Nicholson, der erst mit 37 Jahren feststellte, dass seine Schwester eigentlich seine Mutter ist. Dass Ziff Davis ein Pl@net-Revival plant, ist ebenfalls unbestätigt.